
Verstörendes, kraftvolles Theater von heute
Pünktlich zu den diesjährigen Walfer Bicherdeeg (21.-22. November 2015) erscheint das neue Buch des luxemburgischen Autors Guy Helminger im Verlag capybarabooks. »Venezuela« vereint drei Theaterstücke des 3sat-Preisträgers in einem Band. Das Titelstück erzählt von Jugendlichen, die sich in ihrer Freizeit an Züge hängen. Dieses Train-Surfing ist für sie Mutprobe und Lebenssinn in einem. Sie wollen nichts mit der herkömmlichen Gesellschaft zu tun haben, reproduzieren in ihrer Gang aber exakt jene Normen und Vorurteile, die sie bei Erwachsenen ablehnen: Hierarchie, Rassismus, Verlogenheit. Nachdem Fraggle unter die Räder gekommen ist, erzählen die anderen dem jungen Olif, sein Vorbild sei nach Venezuela ausgewandert, weil dort die Züge schneller fahren würden. »Venezuela« hatte 2003 am Arcola Theatre in London Premiere, wurde 2004 in Luxemburg und Wien inszeniert sowie 2005 in New York beim Fringe Festival auf die Bühne gebracht.
»Das Leben hält bis zuletzt Überraschungen bereit«, auch für Tony und Grace, die sich darin glänzend eingerichtet haben. Der Broker hat für sich und seine Modellfrau eine hermetische Parallelwelt geschaffen, in der Geld die Regeln bestimmt und der Markt die neue Religion geworden ist. Jesus ist zu einem brillant-zwielichtigen Arbeitskollegen mutiert, der das Geschäft von Moral befreit hat. Aber auch »die Kids«, zwei hochbegabte Kinder der zum Haushalt gehörigen Putzfrau, leben in einem Parallelkosmos. Ihr Wunsch, das Böse und Amoralische zu bestrafen, setzt am Ende jede Ethik außer Kraft. Dieses Drama wurde 2011 am Grand Théâtre de Luxembourg und im Salon5 in Wien aufgeführt.
Das »Drüben« des dritten Stücks, das ist eine Kneipe, das ist das Paradies. Drüben kann man sein, wie man ist, drüben findet man das eigene Ich, groß wie der Baum der Erkenntnis. Drüben ist die Sehnsucht, das, was jenseits liegt, jenseits des Lebens, das für den Junkie Mike und seine Freundin nichts als Schmerz und Kater übrig hat. Wenn Drüben zur Religion wird, bleibt für das Hier und Jetzt nur die Bezeichnung Hölle.
Guy Helminger wurde 1963 in Esch/Alzette geboren und lebt seit 1985 als Schriftsteller in Köln. Zusammen mit seinem Kollegen Navid Kermani moderiert er seit neun Jahren den Literarischen Salon International im Kölner Stadtgarten. 2002 erhielt er den Förderpreis für Jugend-Theater des Landes Baden-Württemberg, im selben Jahr den Prix Servais für die Kurzgeschichtensammlung »Rost« sowie 2006 der Prix du mérite culturel de la ville d'Esch. Neben zahlreichen Theaterstücken, Hörspielen und lyrischen Werken hat er u. a. den Erzählband »Etwas fehlt immer« (2005) sowie die Romane »Morgen war schon« (2007) und »Neubrasilien« (2010) veröffentlicht. Guy Helminger wurde 2004 anlässlich der 28. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.
Guy Helminger
Venezuela. Drei Stücke
Verlag: capybarabooks
208 Seiten, 20 x 12 cm
Klappenbroschur
ISBN 978-99959-43-04-2
EUR 17,95