Längere Öffnungszeiten – kürzere Familienzeiten

Wenn ich die aktuellen Sozialverhandlungen verfolge, in denen über die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten diskutiert wird – bis 22 Uhr unter der Woche, respektive bis 21 Uhr und auch verlängerte Öffnungszeiten am Sonntag –, stimmt mich das nachdenklich. Ich erinnere mich gut an meine Kindheit und Jugend, als sonntags die meisten Geschäfte geschlossen waren. Trotzdem hat die Gesellschaft funktioniert. Niemand musste hungern, am Tisch stand immer etwas. Die Nachmittage verbrachten wir auf den Sportplätzen, besonders auf den Fußballfeldern. Der Sonntag war ein Tag für die Familie und für das soziale Miteinander.
Gerade deshalb irritiert mich die Vorstellung, dass eine weitere Verlängerung der Öffnungszeiten positive Effekte haben soll. Sie bedeutet im Kern: weniger gemeinsame Zeit, weniger Begegnungen, weniger Pausen im Alltag. Wenn Eltern verstärkt auch abends oder sonntags arbeiten müssen, sind Familien gezwungen, neue Lösungen für die Betreuung ihrer Kinder zu finden. Das heißt: längere Öffnungszeiten in den Kinderhorten, eine Belastung für das Betreuungspersonal, weniger Freizeit für Kinder, weniger Platz für Sport – der doch für Gesundheit und soziale Bindung so wichtig ist.
Ich frage mich: Geht es hier tatsächlich um Notwendigkeit oder nicht vielmehr um Bequemlichkeit? Muss wirklich alles immer und überall verfügbar sein? Ist das Argument, dass die Wirtschaft dadurch an Fahrt gewinnt, wirklich stichhaltig? Wenn Wachstum auf Kosten des Zusammenlebens und des Zusammenhalts geht, kann es keine tragfähige Lösung sein.
Wir sprechen heute viel von Work-Life-Balance. Eine ständige Ausweitung der Öffnungszeiten steht jedoch im klaren Widerspruch zu diesem Ideal. Statt das Leben besser auszubalancieren, verlängern wir Arbeitszeiten, verschieben die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer weiter und übersehen, dass damit auch das Wohlbefinden der Menschen leidet. Wer in einer Gesellschaft lebt, die sich Auszeiten gönnt, ist nachweislich glücklicher, ausgeglichener und gesünder.
Es lohnt sich zu fragen, warum etwas, das früher funktioniert hat, heute angeblich nicht mehr funktionieren soll. Die Erfahrung zeigt: Ein gemeinsamer Ruhetag stärkt das soziale Gefüge und gibt Halt. Wenn wir das leichtfertig aufgeben, gefährden wir Lebensqualität, die sich nicht mit Geld aufwiegen lässt. Zudem darf man nicht vergessen: Wer wirklich einmal am Abend oder am Sonntag ein dringend benötigtes Lebensmittel braucht, findet es schon heute. Durch die Umfunktionierung vieler Tankstellen zu kleinen Shops gibt es längst Möglichkeiten, jederzeit das Nötigste zu besorgen. Es gibt also keinen Grund, warum zusätzlich auch noch große Supermärkte länger offenhalten müssen.
Deshalb plädiere ich klar gegen eine Verlängerung der Öffnungszeiten. Sie ist nicht notwendig. Wichtiger als rund um die Uhr einkaufen zu können, ist eine Gesellschaft, die Zeit füreinander hat – zum Wohl der Familien, des Zusammenhalts und letztlich jedes Einzelnen.
Sacha ANDRE (Colmar-Berg)