Die Frage nach der Rechtfertigung einer Impfpflicht

Die Debatte um die Impfpflicht in Luxemburg ist schon seit Wochen in aller Munde und spitzt sich nun in einer Konsultationsdebatte in der „Chamber" zu. Dr Schockmel bezeichnete diese Maßnahme jüngst als „alternativlos".
Hinsichtlich dieser fatalistischen Aussage müsste man aber unbedingt die Frage nach einer möglichen Rechtfertigung einer solchen Maßnahme klären. Im Folgenden werde ich mich bemühen, dieser Frage nachzugehen, wohl wissend, dass sie nicht gänzlich zu beantworten ist. Vorweg soll aber angemerkt sein, dass hier nicht der Nutzen einer Impfung allgemein in Frage gestellt ist, sondern nur die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht.
Bisher wird von medizinischen Experten immer behauptet, eine Impfpflicht sei medizinisch gesehen nur dann gerechtfertigt, wenn man dadurch die Möglichkeit hätte die Krankheit auszurotten. Hier sei als Beispiel der Satz des deutschen Gesundheitsministers zitiert: „Wenn es keine Möglichkeit gibt Herdenimmunität zu erreichen, dann ist das epidemiologische Argument für eine Impfpflicht zumindest schwierig". Herdenimmunität kann aber nur dann gewährleistet werden, wenn man durch die Impfung eine sogenannte „sterile Immunität" erreichen würde, dh, der Geimpfte nicht mehr durch das Virus erkranken und vor allem das Virus nicht mehr an Dritte weitergeben könne. Diese Bedingung der sterilen Immunität ist in diesem Fall aber nicht erfüllt. Die derzeitigen Impfstoffe vermögen es nicht, den geimpften Menschen vor der Erkrankung oder vor der Übertragung gänzlich zu schützen. Was anfangs den Anschein hatte, zumindest bei der Wuhan-Variante, erwies sich bereits bei Delta als unrealistisch. Mit dem Auftauchen immer neuer Varianten, wie die derzeitige Omicron-Variante, verliert die Impfung trotz Booster sehr schnell an Wirksamkeit, insbesondere was den Fremdschutz anbelangt. Daher müsste man medizinisch eingestehen, dass eine Impfpflicht für einen Impfstoff, der nicht leisten kann, was eine solche Pflicht rechtfertigen würde, folglich nicht legitmierbar ist.
Von einem ethischen Standpunkt gesehen ist man dazu verpflichtet, zumindest bis zu einem gewissen Grade, seine Mitmenschen vor Leid zu bewahren. Eine Impfpflicht wäre also moralisch vertretbar, insofern dadurch andere genügend vor der Krankheit geschützt wären. Die Vorsitzende des deutschen Ethik Rats Alena Buyx meinte noch vor nicht allzu langer Zeit, dass eine Impfpflicht nur dann legitmierbar sei, „wenn es wirklich sicher wäre, dass Geimpfte nicht mehr ansteckend sind". Hinsichtlich der oben erwähnten Faktenlage (bezüglich der Wirksamkeit der Impfstoffe) ist es nun aber so, dass man sich mit einer Impfung vor allem selbst schützt. Zum Selbstschutz kann man aber ethisch gesehen nicht gezwungen werden. Ein Einwand könnte sein, dass eine Reduzierung der Covid-Patienten in den Krankenhäusern, vor allem auf den Intensivstationen, für die Allgemeinheit förderlich sei und man deshalb zur Impfung verpflichtet wäre. Dieses Argument macht für all jene Gruppen Sinn, die das größte Risiko laufen durch eine Erkrankung an SarsCov2 tatsächlich schwer zu erkranken. Zu dieser Gruppe gehören vor allem, und das weiß man nach 2 Jahren Epidemie nun ziemlich genau, Menschen im fortgeschrittenen Alter, Diabetiker, stark adipöse Menschen und natürlich all diejenigen, die bereits an einer schweren und immunschwächenden Pathologie leiden. Quasi ausgenommen sind aber, und das können weltweite Statistiken bezeugen, junge Menschen und Menschen mittleren Alters ohne oben genannte Vorerkrankungen.
In der ethischen Einschätzung einer Impfpflicht soll auch die Risikoabschätzung mit einbezogen werden. Vor dem Hintergrund, dass eine Impfung vor allem Selbstschutz ist, muss man das Risiko der Nebenwirkungen, einer Impfung auch einrechnen, besonders da die Risiken der Impfschäden und die Risiken an Corona schwer zu erkranken, in den Altersschichten der Gesellschaft verschieden verteilt sind. Diejenigen mit dem geringsten Risiko an Corona schwer zu erkranken sind tendenziell diejenigen mit dem größten Nebenwirkungsrisiko bei der Impfung. Es ist ethisch geboten diese unterschiedlichen Risiken zu betonen und ernst zu nehmen. Folglich wäre eine Impfpflicht, die sich gezielt auf jene Gruppe richtet, die am verletzlichsten und am gefährdetsten sind, wie es zum Beispiel in Griechenland und Italien der Fall ist, unter den oben genannten Gesichtspunkten erwägungswert.
Und dennoch muss man sich prinzipiell fragen, ob ein Mensch, alt oder jung, gesund oder krank, gezwungen werden kann, sich einer solchen Pflicht zu beugen. Ein medizinischer Eingriff, der unter Druck erfolgt, ist menschenrechtlich, da mit der Menschenwürde und der körperlichen Autonomie schwer vereinbar, zumindest sehr fragwürdig. In der „Allgemeinen Erklärung über Bioethik und Menschenrechte" der UNESCO steht unter anderem, „jede präventive, [...] medizinische Intervention, hat nur mit vorheriger freier [...] Entscheidung der betroffenen Person [...] zu erfolgen.". Und zusätzlich: „Die Interessen und das Wohl des Einzelnen sollen Vorrang vor dem alleinigen Interesse [...] der Gesellschaft haben". Wenn auch diese Erklärung keinen rechtskräftigen Charakter hat, so drückt diese dennoch Überzeugungen aus, die tief mit dem Autonomiebegriff unter Berücksichtigung der menschlichen Würde in unserem westlichen Denken verankert sind und deshalb grundsätzlich Berücksichtigung finden müssen.
Zudem sollte ein demokratischer Staat abweichende Meinungen innerhalb seiner Bevölkerung und abweichendes individuelles Verhalten bezüglich der eigenen Körperlichkeit tolerieren. Eine wichtige Aufgabe einer jeden Demokratie ist es abweichende Haltungen zu schützen. Die Einführung einer Impfpflicht auf einer derart fragwürdigen ethischen und medizinischen Grundlage, setzt jedoch einen Präzedenzfall, der Räume und Möglichkeiten offenlegt, die, wenn in falschen Händen, sich als sehr unheilvoll erweisen könnte.
Unabhängig davon, dass sie ihren Zweck prinzipiell nicht erfüllen kann, kommt die Impfpflicht für diesen Winter ohnehin zu spät. Sie kann zusätzlich nicht das mittlerweile oft genannte Ziel erreichen, nämlich die Infektionen derart zu unterbinden, dass das Funktionieren wichtiger Dienstleistungen ununterbrochen gewährleistet werden kann. Dies wäre eventuell durch andere Maßnahmen möglich, die man politisch ungerne wieder ergreifen würde: Lockdowns, Kontaktbeschränkungen, Largescale Testing, usw.... .
Mit der Ungewissheit vor kommenden Varianten und dem stetig schwindenden Schutz der Impfstoffe vor diesen Varianten muss man den Sinn einer Impfpflicht doch hinterfragen. Zudem kann man sich fragen, was eine solche Impfpflicht zusätzlich bringen wird, wenn nach diesem Winter die meisten durch Impfung oder Infektion immunisiert sein werden. Wenn man diese Einwände nicht berücksichtigt oder unreflektiert von einer Alternativlosigkeit redet, dann könnte diese Maßnahme als politischer Aktionismus interpretiert werden. Zudem müsste man sich auf Grund der Omicron-Variante, welche im Gegensatz zur Delta-Variante bekanntlich nur zu einem Drittel an Krankenhauseinweisung führt, fragen, ob es die Maßnahme wert ist, den Teil der Bevölkerung, der sich nicht Impfen will, noch weiter unter Druck zu setzen und den gesellschaftlichen Riss noch zu vertiefen.
Ich hoffe aufrichtig, dass diese Einwände von den Regierungsbeauftragten und den Zuständigen der Ethikkommission berücksichtigt und beachtet werden, bevor man alternativlos eine solche Maßnahme ergreift.
Scheer Kris – Esch/Alzette