Mediale Gewalt: Katharsis oder Anstiftung zu aggressivem Verhalten?

Nicht erst seit dem rezenten Amoklauf im Grazer BORG (Bundesoberstufenrealgymnasium) flammt erneut die Diskussion über exzessive Gewalt im Fernsehen und anderen Medien auf. Seit Jahren wird über dieses Thema erfolglos debattiert. Begründen lässt sich dieser Misserfolg damit, dass sich diese Thematik nicht verallgemeinern lässt.
Über die Auswirkungen des Konsums von Gewaltfilmen auf Jugendliche streiten sich die Wissenschaftler seit der Erfindung des Films. Dies obwohl die Weltliteratur schon lange vor der Erfindung der „laufenden Bilder“ Mord und Totschlag zu bieten hatte. Im Gegensatz zu dem über zweieinhalbtausend Jahre altem Drama „Medea“ von Euripides oder einigen Werken von William Shakespeare wirken „Rambo“ oder „Saw“ doch wie Gutenachtgeschichten.
Jene Wissenschaftler, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, sind in zwei große Lage gespalten. Bereits Aristoteles, Lehrmeister der Poetik, befand, dass Eleos (Jammer, Klage) und Phobos (Schrecken und Entsetzen) in jedem Drama einen wichtigen Zweck erfüllen. Laut seiner These dienen sie der Katharsis, der Reinigung des Menschen von seinen Erregungszuständen.
Die Konservativen – u.a. die Vertreter sämtlicher Religionen, sowie einem Großteil der Politiker – ihrerseits würden am liebsten ein Gesetz zum Verbot dieser Filme und Videospiele einführen. Sie vertreten den Standpunkt, dass sich die steigende Anzahl dieser Zelluloid-Werke proportional zum Anstieg der Jugendkriminalität verhält.
Action-Filme und Videogames als Katharsis zur Reinigung von Erregungszuständen oder als Anstiftung zu eigenem aggressivem Verhalten?
Einige renommierte Kinderpsychologen sind zurecht der Meinung, Jugendliche bräuchten in einem gewissen Maß Stoff für aggressive und auf Vergeltung ausgerichtete Tagträume, um angestaute Aggressionen ausleben zu können, ohne jemanden zu verletzen, doch leider gilt auch bei dieser These: Ausnahmen bestätigen die Regel. Wiederholt tauchen Fälle auf, in denen Jugendliche Gesehenes nachahmen – oftmals mit tödlichem Ausgang. Aber ist z.B. das 20. Jh. nicht zugleich jenes Jahrhundert gewesen, in welchem Adolf Hitler, Al Capone, Charles Manson u.a. die dunkelste Seite des Menschen hervorbrachten und zwar ohne Einwirkung oder Beeinflussung von Film und Fernsehen, Videospielen, Tiktok & Youtube?
Zurzeit laufen an die 5.000 Studien, die sich mit der Auswirkung von medialer Gewalt befassen. Eine Standardlösung ist nicht zu erwarten, jedoch deuten viele dieser neuen Arbeiten auf einen Konsens zwischen der Katharsis- und der Anstiftungs-These: Gewalt im Fernsehen oder in Videospielen kann sowohl eine abreagierende Wirkung haben, als auch zu Verbrechen anregen. Ausschlaggebend ist das soziale Umfeld.
Oftmals wird die Tatsache verdrängt, dass die Gewalt im Fernsehen oder in Videospielen nicht der Auslöser der steigenden Jugendkriminalität sowie von Amokläufen ist, sondern lediglich der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Der Hauptauslöser besteht vielmehr aus einem mörderischen Cocktail verschiedener Zutaten, zu denen mediale Gewalt ohne Zweifel dazugehört – aber nicht ausschließlich. Die restlichen Zutaten sind meist im sozialen Umfeld der betreffenden Person zu finden.
Fehlende Zukunftsperspektiven durch steigende Arbeitslosigkeit, Drogen- oder Alkoholprobleme, Jugendliche, die sich in der vorherrschenden Ellbogengesellschaft nicht oder nur schwer zurecht finden, die sich von ihren Eltern missverstanden oder vernachlässigt fühlen, die von Familienmitgliedern misshandelt werden, Outsider ohne Ansprechpartner bei auftauchenden Problemen, zudem oftmals von Schulkameraden verspotten oder gehänselt, Stichwort Mobbing. Diese Komponenten wiegen schwerer als Gewalt im Fernsehen oder Ballerspiele – ohne diese jedoch ignorieren zu wollen. Ein weiterer und wichtiger Aspekt ist das mangelnde Vorhandensein von Personen mit Vorbildcharakter für die Jugend, dies gilt auch – und vor allem – für unsere Politiker. Da verwundert es nicht, wenn sie sich an „Actionhelden“ orientiert.
Irgendwann entgleiten sie uns dann, geraten an falsche Freunde, rutschen in die Illegalität oder starten – im Extremfall – einen Amoklauf. Doch anstatt das Übel an der Wurzel zu packen, stehlen wir uns aus der Verantwortung und schieben die Schuld lieber auf das Fernsehen und auf Spielekonsolen. In vielen Familien ersetzen doch heutzutage der Fernsehapparat die Eltern und zwar nicht nur in puncto Erziehung der Kinder.
Sie setzen die Kinder vor die „Glotze“ oder die Spielekonsole, weil es einfacher ist, als sich selbst mit ihnen zu beschäftigen. Es ist schier unverantwortlich, wenn ein 10jähriger sich um elf Uhr abends „Rambo 3“ ansieht… unverantwortlich jedoch seitens der Eltern und nicht etwa seitens RTL & Co., denn solche Erziehungsberechtigte müsste man juristisch wegen Verletzung der Aufsichtspflicht belangen können. Viel zu viele Eltern überlassen ihren Kindern einfach alleine die Fernbedienung, anstelle sich mit ihnen zusammen ausgewählte Programme anzusehen und nachher mit ihnen über das Gesehene zu diskutieren. Fehlende Kommunikation lautet leider auch hier das Schlüsselwort. Denn allzu oft gelangt man zur Erkenntnis, dass das, was dem ersten Eindruck nach auf einen spontanen Ausbruch hindeutete, meist Resultat einer langen Entwicklung war.
Bei diesen zumeist Jugendlichen handelt es sich – ohne ihr Verhalten rechtfertigen zu wollen – um Täter und Opfer in einer Person. Einerseits können und dürfen wir keineswegs die Taten dieser Jugendlichen ungestraft lassen, andererseits darf aber nicht vergessen werden, dass sie ein Produkt unserer Gesellschaft sind – auch wenn diese Tatsache ständig verdrängt, oder schlimmer noch, geleugnet wird. Doch jede Gesellschaft besitzt nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Daher ist unsere Gesellschaft auch dazu verpflichtet, die Verantwortung für Taten zu tragen, von denen sie nicht jeglicher Schuld entbunden werden kann.
Als Lösung kann daher nur ein Konsens in Frage kommen. Dieser läge eher in der selektiven Einschränkung von Gewalt im Fernsehen und bei Videospielen, denn ein Verbot wäre eine Radikallösung, aber keine des Verstands. Man kann nicht einfach sämtliche Jugendlichen über einen Kamm scheren. Die Zahl derer, auf die Gewaltfilme und Ballerspiele keinerlei Auswirkungen haben – da sie über genügend Verstand und Empathie verfügen, um zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden – überwiegt immer noch bei weitem. Es wäre zudem ein eklatanter Verstoß gegen die Ethik einer Demokratie, würden wir dem verständigen Teil der Bevölkerung ein Verbot auferlegen wegen Missbrauch seitens einer Minorität. Solch ein Verbot wäre genauso sinnlos, wie die Einführung der Prohibition, da ein gewisser Prozentsatz der Verkehrsunfälle auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückzuführen ist.
Fatal war auch der Irrglaube, Europa bliebe von Amokläufen dieser Art verschont. Es wurde sträflich versäumt, vorzubeugen, bevor das Kind im Brunnen lag. Der altbekannte Spruch „Hier herrschen Gott sei Dank noch keine amerikanischen Zustände“ musste uns irgendwann einholen. So geschehen am 26/04/2002 in Erfurt, jenem schmerzlichen Tag, an dem wir zur bitteren Erkenntnis kommen mussten, dass dem nicht so ist. Doch da war es leider längst zu spät. Und auch Graz am 10/06/2025 hat uns aufgezeigt, dass wir leider noch nicht viel dazugelernt haben seit jenem schicksalhaften Tag vor 23 Jahren. Bleibt zu hoffen, dass wir endlich aus unseren Fehlern lernen, Überheblichkeit und Ignoranz ablegen, um die Saat eines weiteren Erfurt oder eines weiteren Graz vorzeitig im Keim zu ersticken.
Claude Schneider