Eine Replik auf Françoise Hettos Carte Blanche vom 25.6.2025.

Françoise Hetto hat sich getraut, was viele vermeiden: Sie hat gefragt, warum 1.884 Jugendliche die Schule verlassen, ohne Plan, ohne Ziel – und oft ohne Wiederkehr. Ihre Nachdenklichkeit verdient Respekt. Doch genau darin zeigt sich das Dilemma: Wir bleiben zu oft beim Innehalten stehen, wo es längst Klartext bräuchte.

Was wir erleben, ist nicht primär ein Versagen des Bildungssystems, sondern ein Symptom gesellschaftlicher Desorientierung. Die Schule mutiert zur Reibungsfläche einer Kultur, die Anstrengung meidet, Autorität misstraut und Unterhaltung mit Erkenntnis verwechselt. Sie verlangt etwas, das vielen längst abhandengekommen ist: Konzentration, Disziplin, Frustrationstoleranz, Bedürfnisaufschub ... Tugenden, die in der Logik sozialer Netzwerke wie Anachronismen wirken.

Dass Jugendliche täglich sechs bis zehn Stunden mit sozialen Medien verbringen, ist längst keine Nachricht mehr – es ist Alltag. TikTok, Instagram & Co sind zu digitalen Zweitwohnsitzen geworden, eingerichtet in endlosen Feeds, beleuchtet vom Algorithmus. Auf die Woche gerechnet entspricht das einer Vollzeitstelle. Nicht im klassischen Sinne produktiv – aber doch strukturiert nach Reiz und Belohnung.
Zehntausend Stunden – einst die magische Schwelle zur Meisterschaft. Malcolm Gladwell stilisierte sie zur Messlatte für Exzellenz: Wer diese Zeitspanne in eine Kunst investiert, in Mathematik, eine Sprache oder Schach, nähert sich der Perfektion. Heute jedoch fließt dieses Kapital nicht mehr in Kulturtechniken, sondern verdunstet im digitalen Nichts. Was bleibt vom Üben, vom Ringen, vom Sich-Aneignen? Eine Generation, die virtuos ist im Vermeiden, brillant im Zerstreuen, aber hilflos im Aushalten. Zehntausend Stunden im Dienste der Ablenkung – und keine Minute für das Wesentliche.

Die Plattformen arbeiten dabei nach dem Prinzip der Glücksspielindustrie: variable Belohnung, ständige Reizwechsel, impulsiver Dopaminausstoß. Das Ergebnis: eine Jugend, die auf Impulse konditioniert ist – und eine wachsende Zahl von Eltern gleich mit. Wenn dann Abhängige versuchen, andere Abhängige zu therapieren, entsteht kein Heilungsprozess – sondern ein geschlossener Zirkel der Selbstverklärung. In der Soziologie spricht man von einem geschlossenen sozialen System mit Immunabwehr gegen Kritik.
Verwahrlosung beginnt aber nicht erst mit dem ersten eigenen Smartphone – sondern deutlich früher. In vielen Familien hat sich ein Erziehungsstil etabliert, der weniger auf Charakterbildung als auf Krisenvermeidung zielt. Grenzen werden nicht gesetzt, sondern diskutiert. Autorität wird nicht ausgeübt, sondern relativiert. Und das Ideal des harmonischen Miteinanders ersetzt schleichend die Zumutung der Erziehung.

Es ist ein wohlmeinender Rückzug, der gefährlich ist: Wer Kinder vor jeder Frustration bewahrt, wer ihnen jede Schwierigkeit aus dem Weg räumt, wer sie in ihrer Bedürfniswelt bestärkt, statt sie an die Realität heranzuführen, erzieht keine Persönlichkeit – sondern eine Erwartungshaltung. Eine, die keinen Widerspruch kennt, keine Rückschläge duldet und keinen inneren Kompass entwickelt.

Die Folge ist eine stille Allianz zwischen digitaler Reizüberflutung und psychologischer Unreife. Wer nie gelernt hat, Frust auszuhalten, wird dem Algorithmus nichts entgegensetzen können. Und Eltern, die glauben, alles richtig zu machen, müssen irgendwann erkennen: Sie haben aus Angst vor der Konfrontation genau das verweigert, was Kinder am meisten brauchen – die Erfahrung von Widerstand. 
Und dann ist da die Schule. Mit ihren Regeln, Anforderungen, Rhythmen. Mit Lehrern, die nicht liken, sondern bewerten. Mit Stoff, der nicht sofort Spaß macht. Genau da beginnt das Scheitern. Wer keine Resilienz entwickelt hat, wer nie durch Frust gegangen ist, wer nicht gelernt hat, sich auch mal durchzubeißen, bricht irgendwann weg – dann ab. So werden aus Kindern, die alles hatten, Jugendliche, die nichts mehr wollen. Eine logische Folge: 1.884 Schulabbrecher– und ein System, das sich fragt, warum.

Was also ist zu tun? Gewiss, Patentrezepte stehen nicht zur Verfügung, und auch die folgenden Vorschläge beanspruchen nicht mehr als vorläufige Plausibilität. Es sind Skizzen möglicher Wege – offen für Widerspruch, ergänzbar, diskutabel:

I: Digitales Fasten – mit Augenmaß. Kein Kind braucht TikTok in der Pause. Die Debatte um digitalfreie Schulen wird oft als Technikfeindlichkeit missverstanden. Dabei geht es um etwas anderes: um pädagogische Klarheit. Wer lernen will, braucht kein WLAN, sondern Konzentration. Und wer unterrichtet, sollte nicht mit der Reizarchitektur von Social Media konkurrieren müssen.

Das heißt nicht, dass Tablets und KI per se Verderben bringen. Im Gegenteil: Digitales Lernen birgt enormes Potenzial – vorausgesetzt, es erfolgt klug, maßvoll und pädagogisch fundiert. Doch in der schulischen Praxis regiert häufig der Umkehrschluss: Man verteilt iPads – und hofft, dass sich das Lernen von selbst einstellt. Die Technik wird zum Fetisch, der das didaktische Denken ersetzt. Der Bildschirm ersetzt das Gegenüber, die Anwendung die Auseinandersetzung. Wo Bildung stattfinden sollte, dominiert der digitale Dauerstimulus.

Besonders absurd wirkt diese Situation, wenn man sich vergegenwärtigt, wie jene Tech-Milliardäre, die uns diese Geräte beschert haben, ihre eigenen Kinder unterrichten lassen: analog, handschriftlich, oft mit angeschlossenem Bauernhof in idyllischer Umgebung. Sie wissen, warum. Denn sie kennen die Mechanik ihrer Produkte – und die Neuroplastizität junger Gehirne. Wer also glaubt, Bildung lasse sich mit Geräten modernisieren, ohne das Denken mitzuerziehen, verwechselt Fortschritt mit Ausstattung.

II: Sprache als Startkapital. Wer mit fünf nicht ausreichend spricht, dem fehlen nicht nur Wörter – sondern Chancen. Frühkindliche Bildung muss deshalb verbindlich sprachsensibel gestaltet werden: noch mehr Sprachförderung in Kitas, verpflichtende Elternberatung, gezielte Vorschulprogramme ab drei Jahren. Sprache ist kein Nebenprodukt der Kindheit, sondern ihre wichtigste Währung.

III: Handwerk als Bildungsanker. Jeder Jugendliche sollte spätestens mit 16 in mindestens drei praktische Berufe hineinschnuppern – nicht digital, sondern physisch. Werkstatt statt Website. Denn echte Arbeit ist ein Erlebnis, kein Konzept. Die Schweiz macht es vor: Dort genießt das Handwerk hohes Prestige, es bietet klare Karrierewege, solide Ausbildung und echte Wertschätzung. Genau hier liegt die Zukunft: In einer Welt, in der KI Steuerberater und Bankbeamte ersetzt, aber keine Dachrinne montieren kann, wird der Handwerker wieder zur Schlüsselperson.

Dazu gehört auch eine gesellschaftliche Neubewertung des Handwerks. Wer es aufwerten will, muss es neu inszenieren – mit innovativen Betrieben, smarten Ausbildungsgängen, echten Aufstiegschancen und vor allem: mit Löhnen, die sich nicht verstecken müssen. Solange das kunstvolle Arrangieren von Worthülsen am Schreibtisch höher dotiert wird als das millimetergenaue Verlegen von Fliesen, bleibt jede Bildungsreform ein rhetorisches Feigenblatt. Wertschätzung beginnt beim Gehaltszettel – und endet beim Stolz auf die eigene Arbeit.

IV: Elternpflicht. Wer Kinder hat, muss auch erziehen. Erziehen heißt nicht, daneben zu stehen – sondern dazwischenzugehen. Wer sein Kind verwahrlosen lässt – emotional, sprachlich, digital –, der gefährdet dessen Zukunft. Bildung beginnt zu Hause. Immer.

V: Verbindliche Bildungsstandards. Keine weichgespülten Schulabschlüsse, keine Rabattpädagogik, kein Abschluss für bloße Anwesenheit. Wer Defizite hat, bekommt Hilfe – aber auch klare Zielvorgaben. Lernlücken müssen geschlossen, nicht kaschiert werden. Die Schule muss den Mut zurückgewinnen, wieder mehr einzufordern.

Statt das Leistungsprinzip weiter aufzuweichen, braucht es verbindliche Bildungsstandards, die einen Unterschied machen – zwischen echter Kompetenz und diplomierter Ahnungslosigkeit. Klare Anforderungen und transparente Bewertungen sind nur glaubwürdig, wenn sie auch Konsequenzen haben. Die stillschweigende Passkultur – also das reflexhafte Durchwinken um des lieben Friedens willen – muss beendet werden.

Im technischen Sekundarunterricht ist das Scheitern zwischen 7e und 5e beispeilsweise zur Ausnahmeerscheinung geworden. Die Durchlässigkeit des Systems ist derart umfassend, dass sie jede pädagogische Selektion obsolet erscheinen lässt. Leistungsdefizite, Motivationsprobleme, selbst manifeste Verweigerungshaltungen – all das wird nicht korrigiert, sondern absorbiert. Die Schule wird zum Schonraum, der seine Schwächsten nicht fordert, sondern begleitet – bis zur Abschlussprüfung, an der dann trotzdem nicht wenige scheitern. 2025 erreichten im Secondaire général (ESG) lediglich 66 Prozent der Schüler ihren Abschluss im ersten Versuch. Im deutlich selektiveren Enseignement classique (ESC) waren es fast zwanzig Prozentpunkte mehr. Man wird fragen dürfen, ob eine Pädagogik, die auf Sanktion verzichtet, nicht auch den Erfolg nivelliert – und damit jede Form von Leistungsstolz unterminiert. Und ob ein Bildungssystem, das alle Unterschiedlichkeit in Durchlässigkeit auflöst, am Ende nicht genau das erzeugt, was es vermeiden will: eine stille Erosion des Anspruchs.

Diese inflationäre Nachsicht hat Folgen. Wer Leistung so bewertet, will nicht mehr wissen, was ein Schüler kann – sondern verhindern, dass es das Zeugnis offenbart. Leistung wird entkoppelt von Konsequenz, und Schulabschlüsse verlieren ihre Aussagekraft. Das Leistungsprinzip, einst Rückgrat und Kompass jeder Bildungsbiografie, wird außer Kraft gesetzt – aus Angst vor Statistik, nicht aus pädagogischer Überzeugung.

VI: Integrationspflicht – gerade für Zuziehende. Zuwanderung prägt unsere Gesellschaft – und stellt auch das Bildungssystem vor besondere Herausforderungen. Freizügigkeit ist ein Recht, Bildung aber kein Selbstläufer. Wer in Luxemburg ankommt, muss sprachlich, kulturell und schulisch andocken können – nicht als Akt der Anpassung, sondern als Voraussetzung für Teilhabe. Gerade Kinder aus prekären Verhältnissen brauchen keine Schonräume, sondern klare Strukturen, frühe Förderung und belastbare Erwartungen. Ja, Herkunft prägt Bildungsbiografien – oft tiefgreifend. Umso wichtiger ist ein System, das nicht Herkunft belohnt, sondern Anstrengung – und das den Mut hat, alle in die Pflicht zu nehmen: Schüler, Eltern, Schulen, Gesellschaft. Denn am Ende sitzen wir alle im selben Boot.

Bildung ist mehr als nur Lesen, Schreiben und Rechnen. Sie ist das Fundament unserer Gesellschaft – sie lehrt Verantwortung, kritisches Denken und den Willen, sich anzustrengen. Wenn fast 2000 Jugendliche die Schule verlassen, ohne eine Perspektive zu haben, liegt das nicht im Widerspruch zu einem Bildungssystem mit zu niedrigen Anforderungen. Es ist die Folge davon.

Ein zukunftsfähiges Bildungssystem stellt klare Anforderungen, nimmt individuelle Stärken ernst – und konfrontiert junge Menschen mit realen und realistischen Herausforderungen. Nur wer gelernt hat, sich anzustrengen, kann sein Leben selbstbestimmt und kompetent gestalten. Fortschritt entsteht nicht aus pädagogischer Schonung, sondern aus dem Zusammenspiel von Anspruch und Förderung. Wer Kinder auf die Zukunft vorbereiten will, muss ihnen heute etwas zumuten, sonst muten sie der Zukunft zu viel zu.

Manuel Bissen