Den Anatole Frey gouf 1918 a Loutrengen gebuer an am Zweete Weltkrich vun der Wehrmacht zwangsrekrutéiert.

Et ass en trauregt Kapitel an der Geschicht vun eisem Land: iwwer 11.000 jonk Lëtzebuerger goufen am zweete Weltkrich zwangsrekrutéiert a gezwongen, an der Wehrmacht ze kämpfen. Dës batter Erfarung hunn och vill jonk Männer aus dem Elsass a Loutrengen misse maachen. Ee vun hinne war den Anatole Frey, de Grousspapp vun der däitscher Schrëftstellerin Natalie Buchholz. Hie gouf um Dag vum Armistice, dem 11. November 1918 an der klenger Uertschaft Kapellenhof a Loutrengen gebuer.

Et ass e pueren Zoufall, deen d'Natalie Buchholz am Hierscht 2021 dozou bruecht huet, sech méi genee mat der Persoun vun hirem Grousspapp ze beschäftegen. Och wa si als Kand nëmme wéineg Kontakt mat him hat (hien hat et senger Duechter ni verzien, dass si sech mat engem Däitsche bestuet huet) sou krut si awer mat  15 Joer e ganz spezielle Kaddo vun him: e klengt blot Bichelchen mam Titel: "Anatole Frey, Mémoires d'un septuagénaire". Bal 30 Joer laang stoung et ongelies an hirem Bicherschaf, mä du gouf et zum Ausgangspunkt fir hir Recherchen aus deene schlussendlech de Roman "Grand-papa" entstanen ass.

"Je les ai lues, Grand-papa" sou der Natalie Buchholz hir Dedicace fir hire Grousspapp.

Am Interview erzielt d'Natalie Buchholz, wéi si hire Bopa Säit fir Säit kennegeléiert huet. 

Bea Kneip: Für Ihren Debütroman «Der rote Swimmingpool» haben Sie sehr viele gute Kritiken erhalten. Nach diesem Coming-of-age Roman haben Sie jetzt ein Kapitel Ihrer eigenen Familiengeschichte aufgearbeitet. Dabei haben Sie Ihren «Grand-papa» Anatole Frey gar nicht so gut gekannt. Wie ist dieses Buch entstanden?
Natalie Buchholz: Da war zunächst das Wissen um den guten Stoff. Da gab es die persönliche Ebene. Da gab es die vielen Familienlegenden, denen ich nachgehen konnte, bis ich im Laufe meiner Recherche eine Entdeckung machte, die vieles, was immer erzählt wurde und als gesetzt galt, in ein anderes Licht rückte. Aber ich habe Jahre gebraucht, bis ich mich an meinen Roman herangetraut habe. Zuerst habe ich es mit Humor versucht. Aber das ging nicht gut aus. Der Ton war zwar zugänglich, allerdings vergrößerte der zugängliche Ton die Distanz zur eigentlichen Thematik. Also näherte ich mich der Zerrissenheit, die sich durch meine Familie wie eine Landesgrenze zieht, anders an; indem ich die gegebene Distanz zuließ und mich ernst nach und nach bis an den Kern vorwagte – ein mühsamer Prozess. Und wie immer, wenn aus einem Stoff ein literarischer Text entsteht, verändern sich Blick und auch der emotionale Zugang.

B.K.: Auf dem Cover sieht man die Silhouette eines Mannes, dessen Gesicht hinter Nebelschwaden versteckt ist. Welche Symbolik steckt dahinter? 
N.B.: Es ist das Bild eines Mannes, das verschwommen ist. So wie das Bild des Großvaters für mich immer verschwommen war. Die Grafikerin hat hier eine, wie ich finde, schöne und geheimnisumwobene Entsprechung gefunden.

B.K.: Er hatte sich offenbar große Mühe gegeben, um seine Memoiren an Sie weiterzugeben. Memoiren. die sich immer wieder zwischen den Nationen bewegen. Sie geben das Beispiel von einem fiktiven Elsässer namens Charles Lagarde?
N.B.: Ja, das war ein Witz, der mir immer wieder zu Ohren kam und der wunderbar das fragile Verhältnis von Nationalität und Identität beleuchtet:
1871, nachdem deutsche Truppen das Elsass erobert hatten, wird der achtzehnjährige Charles Lagarde zu Karl Wache. Die Deutschen befanden, das sei leichter auszusprechen. 
1918, Karl Wache ist inzwischen fünfundsechzig, der Erste Weltkrieg ist passé, Elsass und Lothringen gehören wieder zu Frankreich, da übersetzen die Franzosen Karl Waches Namen, wie es einst die Deutschen getan hatten, aber diesmal phonetisch: Aus Herrn Wache wird Monsieur Vache.
Als die Deutschen 1940 Frankreich besetzen und besessen sind von der Zwangsgermanisierung der Region, wird aus Monsieur Vache, inzwischen siebenundachtzig Jahre alt, Herr Kuh. 
Mit zweiundneunzig Jahren erlebt Herr Kuh das Fest der Befreiung. Elsass und Lothringen werden nun endgültig Frankreich zugeschrieben, und der Mann, der einst als Charles Lagarde geboren wurde, stirbt ein paar Tage später als Monsieur Cul, was in deutscher Übersetzung die vulgäre Ausdrucksweise des Hinterns ist. Oder anders gesagt: Charles Lagarde verließ die Welt als Gearschter.

B.K.: Wie muss man sich Anatoles Kindheit vorstellen? Wie war sein Elternhaus, mit welcher Sprache ist er aufgewachsen?
N.B.: Mit lothringischem "Deitsch". Mit dem Französischen kam er erst in Kontakt, als er auf die Schule ging. Seine Eltern waren Bauern, nicht ungewöhnlich für die damalige Zeit in dieser ländlichen Gegend. Eine ärmliche Kindheit, geprägt von dem frühen Wunsch nach Bildung und Aufstieg.

B.K.: Welches Bild hatten die Menschen im Rest von Frankreich damals von den Elsässern und den Lothringern? Als Anatole und seine Eltern in die Aquitaine umgesiedelt werden, begegnen Ihnen die Einwohner mit Misstrauen?
N.B.: Meines Wissens zum Teil mit Misstrauen, aber auch mit Freundlichkeit.

B.K.: Ihr Grand-papa wurde von der Wehrmacht zwangsrekrutiert, eine Erfahrung die auch viele Luxemburger während des zweiten Weltkriegs machen mussten. Wie wichtig ist diese Episode im Leben Ihres Großvaters?
N.B.: Es hat ihn natürlich sehr geprägt. Und es hatte auch Auswirkungen auf die Angehörigen. Unter der Fahne des Feindes kämpfen zu müssen, ist nichts, was man später einfach so ablegt wie eine Uniform.

B.K.: Kennen Sie Luxemburg?  
N.B.: Bislang leider nur aus kurzen Stationen. Aber am 19. Mai 2025 habe ich mit 'Grand-papa' eine Lesung in der Stadtbibliothek Differdingen. Ich freue mich schon sehr darauf!

B.K.: "Das musst du bitte ändern" ist ein Satz, der oft am Ende eines Kapitels erscheint, wenn die Memoiren des Großvaters nicht mit der Erinnerung seiner Tochter- Ihrer Mutter- übereinstimmen. Wie sind Sie mit solchen Unstimmigkeiten umgegangen? 
N.B.: Ein literarisches Porträt über einen Menschen zu schreiben, den ich zwar kannte, der mir aber dennoch nicht nah war, ging für mich nur über die Verbindung oder Mittlerfunktion der Figur der Mutter. Sie ist ein gutes literarisches Mittel, um der Frage nach Erinnerung und Verdrängung nachzugehen. Die Mutterfigur war für meinen Roman unabdingbar. Dass es Unstimmigkeiten in der Erinnerung gab und gibt, hat mich nicht verwundert. Erinnerungen sind volatil. Auch sind meine Erinnerungen nicht die einer anderen Person, selbst wenn wir zum gleichen Zeitpunkt das Gleiche erlebt haben. Erinnerungen bilden sich auch oft aus Erzählungen. Hat man es wirklich erlebt oder nur erzählt bekommen? Was ist wahr? Die eigene Erinnerung? Die Erinnerung von jemand anderem? Es kursieren also unterschiedliche Erinnerungen und damit unterschiedliche Erzählungen. Diese in einen Zusammenhang zu setzen und damit in Frage zu stellen, war mir wichtig. Die Mutterfigur schlägt zudem eine für mich notwendige Verbindung vom literarischen Ich zur Großvaterfigur, ist damit generationenübergreifend.

B.K.: Die Generation, die den Krieg miterlebt hat, hat oft über ihre traumatischen Erlebnisse geschwiegen. Braucht es eine Distanz von zwei Generationen, um darüber schreiben zu können?
N.B.: Die Nachkriegsgeneration war zu nah dran, als dass sie Antworten auf ihre Fragen bekommen oder überhaupt erst Fragen gestellt hätte. Die darauffolgende Generation hat eine größere emotionale Distanz – und ja, das ist hilfreich, um sich (literarisch) mit dieser Zeit auseinanderzusetzen. Wenn diese, meine Generation also nicht nachfragt, was die Großeltern während des Zweiten Weltkriegs getan haben, wer soll es dann tun? Die Aktualität des Themas ist größer denn je. Wir leben in einer Zeit, in der rechte Kräfte europaweit erstarken.

B.K.: Ihr Großvater hat seiner Tochter nie verziehen, dass sie einen Deutschen geheiratet hat. Was haben diese Ressentiments für Sie selbst in Ihrer Kindheit bedeutet?
N.B.: Besuche waren geprägt von der Angst, den prüfenden Blicken des Großvaters nicht standhalten zu können. Allerdings haben Erzählungen über ihn das Bild von ihm überlagert. Insofern bin ich nicht sicher, ob es diese prüfenden Blicke überhaupt gab. Vielleicht waren sie nur in meinem Kopf. In meiner Familie sind Frauen die Erzählerinnen, die das Bild der Männer zeichnen und weitergeben – auch, weil sie sie in der Regel überleben.

B.K.:Wie hat sich Ihr Bild von Ihrem Grand-papa durch das Schreiben dieses Buches verändert? 
N.B.: Es gibt meinen persönlichen Blick auf meinen Großvater, und es gibt meinen literarischen Blick auf ihn, der beinhaltet, dass die Großvaterfigur stellvertretend ist für viele Männer während des Zweiten Weltkriegs im Elsass und in Lothringen, aber auch in Belgien und in Luxemburg, die zwangsrekrutiert worden sind. Es geht mir also nicht so sehr um meinen Großvater als Person als um zigtausend Biografien von Zwangsrekrutierten und deren Angehörigen, die den oszillierenden Kräften zwischen zwei Ländern ausgesetzt waren, deren Folgen noch heute in vielen Familien zu spüren sind – das macht die Geschichte meines Großvaters für mich gegenwärtig. Denn in seine Zeit als junger Mann zurückzugehen, immer mit dem Abgleich, was sich heute in der Welt tut, schärft zwangsläufig den Blick darauf, wie sich gewisse Strukturen in der Geschichte wiederholen.  
 
"Grand-papa"
Natalie Buchholz
erauskomm am Penguin Verlag
14.08.2024
ISBN 978-3-328-60217-0
Hardcover
256 Säiten
24€
 
Den 19. Mee 2025 liest d'Natalie Buchholz am aale Stadhaus zu Déifferdeng aus hirem Roman.