Lynchen eines grossen Künstlers oder berechtigte öffentliche Debatte?

Aktuell schlägt der Fall des berühmten französischen Schauspielers Gérard Depardieu hohe Wellen in der Presse...
...Wobei diametral entgegengesetzte Ansichten hart aufeinanderprallen.
Möchten Betrachter*innen sich selbst eine objektive Meinung zu diesem Fall bilden, ohne der einen oder anderen Seite blind zu vertrauen und sich gar von der heutzutage nicht unüblichen cancel culture mitreissen zu lassen kommen sie nicht umhin, die bislang bekannten Fakten genauer unter die Lupe zu nehmen.
Gérard Depardieu ist Sonderzweifel einer der bekanntesten und begabtesten französischen Schauspieler, welcher über aussergewöhnliche Fähigkeiten verfügt.
Seit geraumer Zeit werden durch eine grosse Anzahl Frauen schwere Vorwürfe gegen ihn erhoben, welche vom unmanierlichen Benehmen über sexuelle Belästigung bis hin zur Vergewaltigung reichen.
Einige Frauen haben in diesem Zusammenhang Anzeige gegen den prominenten Schauspieler erstattet. Urteile stehen derzeit noch aus.
France Télévisions veröffentlichte vor Kurzem den Filmauszug «Complément d’enquête», welchen Depardieu während eines Besuchs in Nordkorea zeigt und während dem er fortwährend sexistische Bemerkungen platziert, insbesondere betreffend ein junges Mädchen. Die Authentizität dieses Filmbeitrags wurde im Übrigen von einem Gerichtsvollzieher bestätigt.
Wie bereits angeführt, könnten die verschiedenen Reaktionen darauf nicht unterschiedlicher ausfallen:
Eine Gruppe bekannter französischer Künstler*innen, wie etwa Pierre Richard oder die Sängerin Carla Bruni solidarisieren sich mittlerweile mit Gérard Depardieu und sprechen vom Lynchen des grossen Künstlers und von der Beeinträchtigung der Kunstfreiheit.
Der französische Präsident Emmanuel Macron sah es rezent als erforderlich an, sich schützend vor den bislang noch von keinem Gericht verurteilten und vom Präsidenten bewunderten Schauspieler zu stellen. Er sprach in diesem Kontext von einer Menschenjagt gegen einen grossartigen Schauspieler; über die betroffenen Frauen hingegen verlor er kein Wort.
Andere Künstler*innen hingegen, wie etwa die bekannte Sophie Marceau distanzieren sich klar und deutlich von Depardieu und verweisen auf seine seit langem bekannte sexistische und rüpelhafte Art.
Die französische Kulturministerin Rima Abdul Malak hat das Verhalten von Depardieu als Schande für Frankreich bezeichnet.
Das Wachsfigurenkabinett Musée Grévin in Paris entfernt auf öffentlichen Druck hin die Figur Depardieu’s aus seiner Ausstellung.
Der frühere französische Präsident François Hollande kritisiert das Verhalten seines Nachfolgers in diesem Kontext aufs schärfte und moniert, dass Macron sich nicht um die Rechte der betroffenen Frauen schert (siehe Artikel in der Zeitung Ledevoir).
Der Westschweizer Fernsehsender RTS zeigt bis auf weiteres keine Filme mit Depardieu als Schauspieler mehr.
Häufig wird die Frage aufgeworfen, ob denn die beschuldigenden Frauen überhaupt glaubwürdig seien, insbesondere, da nur sehr wenige von ihnen bei der Justiz Anzeige erstattet hätten.
Dazu folgende erklärende Fakten:
Statistiken belegen, dass im Kontext sexualisierte Gewalt lediglich eine verschwindend geringe Anzahl der beschuldigenden Frauen lügt (etwa 2%!).
In vielen Ländern der Europäischen Union führt eine Anzeige von Sexualdelikten in den allermeisten Fällen nicht zu einer Verurteilung der Täter, sehr häufig kommt es nicht mal zum Prozess, da die Justizsysteme allesamt sehr stark auf Täterschutz fokussiert sind.
In diesem Kontext empfehle ich die Lektüre des so exzellenten wie aufschlussreichen Artikels «Ad Acta – Die juristische Vernachlässigung von Opfern sexualisierter Gewalt», erschienen im Tageblatt / Forum vom 07. November 2023.
Nach Analyse der vorhergehenden Fakten komme ich zu folgender Schlussfolgerung:
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat mit seiner einseitigen Parteiergreifung zu Gunsten von Depardieu den Frauen klar aufgezeigt, dass er fest auf der Seite eines patriarchalisch geprägten Systems steht und sich für die Rechte der Frauen keinen Deut interessiert. Er ist somit nicht mehr nur der Präsident der Reichen, was ja bereits hinlänglich bekannt war, sondern hat sich jetzt zusätzlich auch als Präsident der Sexisten und Vergewaltiger geoutet. Sein Verhalten ist dem eines Republikpräsidenten absolut unwürdig. Zurücktreten Herr Macron, mit Ihrer Aussage verhöhnen Sie alle Frauen!
Künstler*innen wie etwa Sophie Marceau hingegen gebührt Respekt, Ihr Mut, klar Position zu beziehen, daran sollten alle sich ein Beispiel nehmen und sich mit den betroffenen Frauen solidarisieren!
Absolut lobenswert ist ebenfalls die unmissverständliche Stellungnahme von François Hollande! Es bleibt zu hoffen, dass weitere prominente Politiker*innen Stellungnahmen wie jene von Ministerin Rima Abdul Malak oder von Expräsident François Hollande offen teilen.
Das Verhalten von Richard, Bruni & Co hingegen ist derart erbärmlich, dass sich hoffentlich jegliche weitere Analyse dieser peinlichen, ja abstossenden Position erübrigt.
Niemals darf die künstlerische Freiheit, welche in der Tat ein hohes Gut darstellt, dazu missbraucht werden, Sexismus oder gar sexualisierte Gewalt zu verharmlosen oder etwa zu rechtfertigen!
Demnach ist die derzeit öffentlich geführte Debatte um die öffentliche Person Gérard Depardieu, deren sexistische, frauenverachtende Attitüden für jedermann klar erkennbar sind, absolut berechtigt und darf keinesfalls als Lynchjustiz bewertet werden!
Nicht dritte Personen demontieren derzeit Depardieu, das hat er konsequent und gründlich über viele Jahre hinweg selbst erledigt!
Vielmehr kann und soll diese Debatte dazu genutzt werden, Ländergrenzen übergreifend stärker für die Thematik zu sensibilisieren und den fortschrittlichen Teil unserer Gesellschaft im wichtigen Kampf gegen sexualisierte Gewalt und für eine Verbesserung der juristischen Rahmenbedingungen zu unterstützen.
Guy MATHEY, Stegen