So geschehen im Schlaraffenland Luxemburg im Jahre 2023 nach Christo.

Ich hatte ein medizinisches Problem und wollte um einen Termin bitten bei einem Arzt, der mir von mehreren Seiten wärmstens empfohlen wurde. Anruf, spontane Antwort durch eine sympathische, wohlklingende Frauenstimme: "Alle unsere Leitungen sind besetzt, bitte legen Sie auf und rufen Sie später an." Ich schaute auf die Uhr: 14 Uhr 37. Um 15 Uhr dachte ich mir, jetzt sei es später, also wählte ich nochmals. Erneut die gleiche Stimme, die gleiche Aufforderung. Um 16 Uhr fiel mir ein, dass es jetzt doch noch bedeutend später sei als beim 1. Anruf. War aber scheinbar immer noch zu früh. 17 Uhr, nach Adam Riese nochmals 60 Minuten Wartezeit draufgepackt, nicht gefühlte, sondern in gespannter Erwartungshaltung erlebte. Weibliche Stimme gleichbleibend nett und genau so unnachgiebig, ich jedoch schon bedeutend verstimmter. 18 Uhr, Abschlussgespräch für diesen Tag: "Unsere Praxis ist geschlossen...bla...bla...bla…und morgen geöffnet von…" Mir wurde bewußt, wie relativ verschiedene Begriffe sein können und dehnbar wie ein unzerstörbares Gummiband.

Tag 2. Am nächsten Morgen sass ich bereits ab 6 Uhr unter Spannung vor der Reis-schen Erfindung und starrte sie an wie eine Schlange die Maus. Punkt 9 Uhr, der gleiche Spruch wie gestern. Ich verbrachte den ganzen Tag unter 3000 Volt Spannung, vergaß Speise und Trank, tippte in einer Art Zwangsneurose alle 10 Minuten die bewußte Nummer. Ich träumte in der Nacht von einem Volk, dessen Bürger alle zur gleichen Zeit die gleiche Telefonnummer wählten und erlebte wie auf die Dauer unweigerlich ein blutiger Bürgerkrieg ausbrach.

Tag 6. Totale Erschöpfung, schlaflose Nächte. Wenn meine Frau mich ansprach, fiel mir nur eine Antwort ein: "Bitte legen Sie auf und rufen Sie später an." Neben mir vergammelten die Mahlzeiten der letzten Tage, umkreist von fetten Schmeissfliegen. Schloss ich die Augen, sah ich Unmengen an Telefonleitungen, die sich mir alle um den Hals legten und mich würgten. Zu der Frauenstimme, die mich beim ersten Anruf so warmherzig eingelullt hatte, stellte ich mir eine keifende, besenreitende Hexe vor, der ich den Feuertod auf dem Scheiterhaufen wünschte.

Tag 11. Ich war nur noch ein Strichmännchen das von seinen Hosenträgern, die meine Frau am Stuhl befestigt hatte, aufrecht gehalten wurde. Mein Schatten hatte mich kurz vor dem Verhungern verlassen. 16 Uhr 17 Minuten, 41 Sekunden, ein historischer Moment, von meiner Frau festgehalten und später sekundengenau im Buche der Rekorde veröffentlicht: die Verbindung war da. Ich weiss nur noch, dass jemand mir eine Frage stellte. Ich brabbelte in die Leitung, konnte mich nicht erinnern, überhaupt angerufen zu haben und schon gar nicht mehr weswegen. Die geschwollene Zunge in meinem ausgetrockneten Mund, trug das ihre zum Missverständnis bei, dann hörte ich das bekannte Kreischen: "Immer diese Kinderstreiche," und schon war die Leitung unwiederruflich tot.

Als ich drei Wochen später aus der Psychiatrie, wo helfende Hände mich liebevoll an Leib und Seele aufgebaut hatten, zurück nach Hause kam, hatte ich 15 verschiedene Nummern von hervorragenden Ärzten in der Tasche, alle mit Autogramm und Widmung versehen. Es geht doch noch. Moderne Anrufbeantworter teilen mir bei verschiedenen Verwaltungen mit, wieviele Anrufer vor mir in der Leitung sind und wie lange ich voraussichtlich noch warten müsste, alles ist möglich. Es wäre an der Zeit, dass verschiedene Ärzte sich bemühen würden, ihren Patienten etwas mehr Respekt entgegen zu bringen um ihnen zu liebe in nützliche, moderne Techniken zu investieren.

Ben Schultheis