Uschësser, né Merci

Sind die modernen Medien Segen oder Fluch? Diejenigen, die durch sie an das Licht gezerrt werden, um zu ihren Taten Rede und Antwort zu stehen, werden wohl eher unter den Gegnern zu finden sein. Im folgenden Fall wurde dank eines Fotos, das auf Facebook erschien, auf ein Ereignis aufmerksam gemacht, das sich schon seit einiger Zeit abzeichnete. Endlich ist unsere Gesellschaft da angekommen, wo uns Herr Minister Gloden alle hinführen wollte.
In unserer Hauptstadt, im bestbekannten Gebäudekomplex Forum Royal, hängt oder hing zumindest über das Wochenende im Eingangsbereich ein Plakat mit der Aufforderung an die Bevölkerung, sich an der Denunziation einer bestimmten Bürgergruppe zu beteiligen, bekannt unter dem Namen: SANS ABRI. Dazu fällt mir spontan ein vielgebrauchter, abgedroschener Spruch ein: „Wehret den Anfängen.“ Der Startschuss zu einer extrem menschenverachtenden Aktion ist gegeben, die Kugel hat unwiderruflich den Lauf verlassen. Den Lauf der Dinge können wir aber immerhin noch beeinflussen. Verschiedene rezente, voneinander unabhängig geschehene Ereignisse weisen allerdings darauf hin, dass auch bei uns im Marienland bereits ein widerstandsfähiger, fremdenfeindlicher Nährboden entstanden ist. Wie weit fortgeschritten die Besiedelung durch Fremdenhass bereits ist, gepaart mit dem Schüren von dubiosen Ängsten, wird die Zukunft uns zeigen. Tatsache aber bleibt, dass die viel zu lange anhaltende, traurige, staatlich geleitete Bettlerhetze durch diesen Vorfall die Glut vor dem Erlöschen bewahrt.
Herr Gloden, ich werde mich hüten, Ihnen spontan eine Beteiligung an dieser Aktion der Unmenschlichkeit unterzujubeln. Ich akzeptiere jedoch als Zeichen der menschlichen Unzulänglichkeit, wie mir ein kleines Teufelchen ins Ohr flüsterte, dass sich die Hausverwaltung einer solch imposanten Immobilie juristisch, politisch und menschlich in einer geheimen Zusammenkunft im kleinen Kämmerlein von Insidern zu diesem Schritt beraten lassen habe.
Ist der Aufruf der betreffenden Hausverwaltung an die Bevölkerung ein Eingeständnis von Mangel an Mut, das Fehlen eines kompetenten Sicherheitspersonals oder mangelndes Fingerspitzengefühl im Umgang mit Elend und Armut?
Ich stelle mir mal vor, ich wäre vor Ort und von dem Ehrgeiz beseelt, der Allgemeinheit ein Vorbild zu sein. Ich sehe im Flurbereich des besagten Gebäudes ärmlich gekleidete Menschen zusammenstehen, denen deutlich abzusehen ist, dass ihnen die finanziellen Möglichkeiten fehlen, sich der letzten Mode anzupassen. Ihre bescheidenen Habseligkeiten weisen sie in der Mehrheit ganz klar als Obdachlose aus. Sie scheinen sich angeregt miteinander zu unterhalten, eine Flasche wird herumgereicht. Ich stelle mir die Frage, ob diese Menschen alle zu der Gruppe gehören, die in den Akten der Verwaltungen als „Sans Abri“ eingetragen sind, also meiner Zielgruppe angehören, oder sich hier drinnen zu einem Plausch getroffen haben, bis der Regenguss vorbei ist? Um die Verdächtigen zu überprüfen bevor ich sie anzeige, fehlt mir der Mut und ihnen gegenüber eine entsprechende Vollmacht. Im vollen Bewusstsein, der von mir verlangten Bürgerpflicht nicht nachkommen zu wollen, entscheide ich mich, das Vorhaben vorzeitig abzubrechen. Ein Anruf bei den sogenannten Grünjacken ist ein Fehlschlag. Weitere Nachforschungen machen mir klar: es sind die Guten Straßenengel, die Street Worker. Der Gedanke an das Risiko einer Verleumdungsklage durch einen oder mehrere der Betroffenen ist jetzt nicht mehr relevant für meine Entscheidung. Inzwischen hat der Respekt vor den Menschen, die meine Jagdbeute ausmachen sollten, den Wunsch, mich als Saubermann in der Gesellschaft hervorzutun, bei weitem übertroffen.
Ich wünsche mir im Namen aller Bettler und Obdachlosen für die ihnen zur Verfügung stehenden Einrichtungen und deren Mitarbeiterteams die nötigen finanziellen Hilfen. Dazu Politiker mit genügend Herz und Verständnis, um zur Einsicht zu kommen, dass auch in Zukunft gewisse Menschen von ihrem Recht Gebrauch machen möchten, durch die Maschen unseres Sozialnetzes zu schlüpfen, auch wenn sie noch so eng geknüpft sind.
Ben Schultheis