
Wie viel Anspruch darf sich Schule heute noch leisten, ohne sogleich unter Verdacht zu geraten, unzeitgemäß, elitär oder ausgrenzend zu sein? Und was bleibt von Bildung, wenn sie sich nicht mehr als Herausforderung versteht, sondern als Serviceleistung, die niemandem zu viel zumuten darf? Die Debatte um das Schulfach Französisch ist dafür ein Gradmesser – nicht wegen der Sprache selbst, sondern wegen des grundsätzlichen Richtungsstreits zwischen Anspruch und Anpassung, der sich an ihr entzündet.
Frau Lemmer fragt, ob Französisch weiterhin eine zentrale schulische Bezugsgröße sein soll, die maßgeblich über den akademischen Erfolg entscheidet. Eine berechtigte Frage, denn die sprachliche Realität in Luxemburg hat sich verändert: Englisch gewinnt in der Arbeitswelt immer mehr an Bedeutung, Luxemburgisch ist identitär aufgeladen, Deutsch und Französisch geraten unter Druck. Doch wer diese Frage stellt, muss mehr diskutieren als nur Unterrichtsorganisation. Es geht um das Fundament schulischer Bildung: Welchen Anspruch stellt ein Bildungssystem an seine Mitglieder? Welches Niveau ist es bereit zu halten? Und welche Sprache ist funktional geeignet, Integration zu ermöglichen, ohne die Idee der Bildung zu entkernen?
Französisch ist in Luxemburg mehr als ein Fach – es ist ein gesellschaftlicher Code. Wer es beherrscht, hat Zugang zu Verwaltung, Justiz, Medien, Wirtschaft. Wer es meidet, bleibt außen vor. Dass Französisch nicht jedem leichtfällt, ist kein Argument gegen seinen Stellenwert, sondern für differenzierte Förderung. Integration durch Sprache gelingt nicht durch Absenkung von Anforderungen, sondern durch gezielte Ermöglichung des Zugangs – auch wenn dies mehr Anstrengung, mehr Didaktik, mehr Personal bedeutet.
Das eigentliche Dilemma liegt aber tiefer: Luxemburgs sprachpolitisches Modell ist ausgesprochen ambitioniert, aber widersprüchlich. Die Nationalsprache ist für die indigene Bevölkerung identitätsstiftend, aber nicht integrationsfähig. Die Verwaltungssprachen sind institutionell etabliert, aber vielen Jugendlichen mittlerweile fremd. Und Englisch – längst prägend für Hochschulen, Wirtschaft und digitale Kommunikation – bleibt bildungspolitisch nur ein Anhängsel. Integration durch Sprache? Das klingt gut. Doch im Alltag wird es zur Quadratur des Kreises: zu viele Sprachen, zu wenige Brücken. Das Ergebnis: Niemand fühlt sich wirklich integriert, viele fühlen sich überfordert.
Eine funktionale Neubewertung der Sprachenrollen ist überfällig. Französisch und Deutsch benachteiligen – je nach Herkunft – die einen oder die anderen. Englisch hingegen diskriminiert nicht nach Herkunft oder Bildungskapital, sondern schafft Anschlussfähigkeit. Es ist keine Heimatsprache, aber eine Brückensprache. Die Frage ist deshalb nicht, ob Englisch gestärkt werden soll, sondern wie: früher, fokussierter, systematischer – als strategische Notwendigkeit.
Doch Sprache allein entscheidet nicht über Bildungschancen. Wer Bildungsungleichheit nur sprachlich diskutiert, verengt die Perspektive. Naturwissenschaften, Geschichte, Kunst, Mathematik ... – sie alle prägen Bildungsbiografien. Und genau hier offenbart sich ein weiteres Tabu: der Umgang mit Leistung, Selektion, Hierarchien. In einer Gesellschaft, die Vielfalt predigt, wird Differenzierung oft verdächtigt – als elitär, als diskriminierend. Dabei ist sie Voraussetzung für Qualität. Ein Bildungssystem, das sich nicht traut, zu unterscheiden, verrät seinen Anspruch. Keine Gesellschaft funktioniert ohne Hierarchien – entscheidend ist, worauf sie beruhen.
Interessanterweise ist es übrigens nicht die Note in Französisch oder Mathematik, die den besten Prädiktor für Bildungserfolg liefert, sondern die „note annuelle pondérée“ (gewichtete Jahresdurchschnittsnote aller Unterrichtsfächer): also jener untrügliche Leistungsindex, der Fleiß, Disziplin, Kontinuität und Belastbarkeit abbildet. Wer hier stark ist, ist es meist überall. Diese Note misst keine Begabung, sondern Haltung – und gerade deshalb ist sie so aussagekräftig.
Die von Frau Lemmer erwähnten öffentlichen Europaschulen zeigen exemplarisch, wie funktionale Mehrsprachigkeit systemisch gedacht werden kann: Sprachen werden nach Einsatzbereich differenziert. Die erste Unterrichtssprache orientiert sich am muttersprachlichen Niveau. Die zweite Sprache wird gezielt für Sachfächer wie Geschichte oder Geografie eingesetzt. Und eine dritte Sprache folgt als Zusatzmodul, abgestimmt auf spätere Studien- oder Berufsperspektiven. Ein klar strukturiertes Modell, das funktional, transparent und anschlussfähig ist.
Doch auch dieses Modell ist mit Vorsicht zu genießen. Die Gründe sind vielschichtig. Zwar sind die Europaschulen formal für alle offen – faktisch aber besuchen sie vor allem Kinder aus mittel- bis hochgebildeten Elternhäusern. Über 80 Prozent der Schüler stammen aus bildungsnahen Milieus, nur etwa 10 Prozent aus sozioökonomisch benachteiligten Kontexten. Die Folge: ein System, das soziale Selektion nicht abbaut, sondern reproduziert. Was möglicherweise als Blaupause für das Regelsystem gedacht war, gerät zur exklusiven Parallelstruktur.
Auch abseits der sozialen Schieflage gibt es berechtigte Kritik. Die öffentlichen Europaschulen arbeiten mit eigenen Bewertungsmaßstäben, die sich dem nationalen Vergleich weitgehend entziehen. Abitur-Abschlussquoten nahe 100 Prozent zeugen dabei weniger von durchgehend exzellenten Leistungen als von einem System, das Leistung anders definiert und berechnet.
Unser Regelschulsystem wiederum will gleichzeitig fordern und möglichst niemanden überfordern, überall durchlässig, aber nirgends zu selektiv sein. Das Ergebnis: ein Flickenteppich aus Niveausenkung, Parallelangeboten und normativer Beliebigkeit. Bildungswege verlieren an Schärfe, Abschlüsse an Aussagekraft. Die Öffnung wird allmählich zur Entkernung.
In Luxemburg lag der Anteil der Schüler mit Abitur oder einem äquivalenten Abschluss 1980 bei rund 40 % einer Alterskohorte. Heute sind es 65 bis 70 %. Ein bildungspolitischer Fortschritt? Auf dem Papier, ja. In der Substanz jedoch markiert diese Entwicklung weniger ein Mehr an Bildung als ein Weniger an Anspruch. Die quantitative Ausweitung geht häufig mit einer qualitativen Verwässerung einher – Abschlussquoten steigen, weil Anforderungen sinken. Mehr Abschlüsse bedeuten nicht automatisch mehr Wissen – bisweilen sind sie eher ein gut gemeinter Versuch, Teilhabe und Erfolg harmonisch zu versöhnen, auch wenn dabei die Konturen von Anspruch und Substanz verwischen. Besonders im Sprachenunterricht zeigt sich die Schieflage exemplarisch: Die Spreizung sprachlicher Kompetenzen wächst, didaktische Konzepte werden gedehnt, bis sie reißen. Integration wird beschworen – doch was ankommt, ist oft nur die systematische Absenkung des Anspruchs.
Bildung darf aber fordern. Sie muss es sogar. Nicht alles, was schwierig ist, ist ungerecht. Wer nie Anstrengung erfährt, lernt nicht, wozu er fähig ist. Und nur ein System, das produktiv mit Widerstand umgeht, vermittelt Selbstwirksamkeit – die Grundlage echter Teilhabe. Nicht das Abfedern von Belastung macht Schule gerecht, sondern das Zumuten von Entwicklung.
Die Schule muss nicht Spiegel der Gesellschaft sein. Sie darf – und soll – auch ein Gegenmodell entwerfen. Ein Ort, an dem nicht jeder gesellschaftliche Trend automatisch zur Norm erhoben, sondern geprüft, gewogen und gegebenenfalls zurückgewiesen wird. Ihr Widerstandsmoment besteht nicht im politischen Aktivismus, sondern in der bewussten Verteidigung pädagogischer Prinzipien – etwa der Idee, dass Bildung Anstrengung verlangt, dass Leistung Anerkennung verdient und dass nicht jede Anpassung per se Fortschritt ist. Doch das setzt eines voraus: die Fähigkeit zur Unterscheidung – und den Mut, auch gegen den Zeitgeist Haltung zu zeigen.
Vielleicht liegt die Zukunft der luxemburgischen Schule nicht im Ruf nach Vielfalt – sondern im Mut zum verbindlichen Maßstab.
Manuel Bissen
Commentaire vum Carine Lemmer: En français, s’il vous plaît?